Zum Inhalt springen

Wert und Urteil

Ohne Wert haben wir kein Maß. ist ein Satz. Er setzt voraus, dass der Interpret weiß, was ein Maß ist und eine Vorstellung hat, was Wert sein soll. Noch schlimmer, wenn die Hirnforscher recht haben sind noch bevor der Satz bewusst wahrgenommen worden ist, sehr viele Urteile gefällt worden. Kognitionspsychologisch ordnet der Urteilende einem Urteilsobjekt (wie zum Beispiel „Ohne Wert“) einen Wert auf einer Urteilsdimension zu. Logisch wird das Urteil mit der Bewertung dieses Gehalts identifiziert. Praktisch ist es die Entscheidung. Ein Affe der von Baum zu Baum hangelt, wird automatisch beurteilen, ob der nächste Ast, den er greifen will, sein Gewicht trägt oder nicht. Ein Fehlurteil könnte tödlich enden. Der Affe wird dazu weder physikalische Berechnungen heranziehen noch wird er lange Denkprozesse dazu starten. Ein Großteil davon wird so ablaufen, wie ich hier schreibe. Ich denke nicht darüber nach, welche Taste ich drücke. Ich habe mit Erfahrung und Training Zehnfingerblindschreiben gelernt und die Tastendrücke sind in Fleisch und Blut übergegangen.  Ein Tippfehler mag dabei noch kein Fehlurteil sein. Aber dennoch ist es ein hochkomplexer Prozess, das Wort Wert schließlich zu schreiben. Glaube ich der Hirnforschung, dann sind die Urteile, welche Worte hier in die Maschine fließen schon weit vorher in meinem Unterbewußtsein gefällt worden, noch bevor ich weiß, dass ich sie schreiben werde.

Aber auch umgekehrt gilt das für den Leser dieser Zeilen. Noch bevor er „Ohne Wert ist kein Maß“ gelesen hat, könnte er aufgrund der Vorprägung auch gelesen haben „Ohne Wert haben wir kein Maß“ was aufgrund der Buchstabenanzahl unwahrscheinlich ist.  Aber es gibt ja so schöne Sachen wie „Ohen Wret heban wir kien Maß“ welches lesbar bleibt, wenn gewisse Regeln eingehalten werden. Wenn wir einen Sinn sehen wollen, dann werden wir auch in dem Sinnlosen einen Sinn erkennen. Ob etwas wertvoll ist oder nicht, hängt nicht davon ab, ob es objektiv etwas von Wert ist, sondern einzig und allein davon, ob wir die Entscheidung treffen, dass es wertvoll ist. Ich könnte eine Tonne Gold in die Wüste stellen, die nur nach zwei Tagesmärschen ohne Wasser zu erreichen wäre und daneben eine Flasche Wasser. Das Wasser wäre für den Verdurstenden mehr Wert als die gesamte Tonne Gold, vielleicht würde der Verdurstende sogar das Gold erst wahrnehmen, wenn er ein Schluck Wasser getrunken hat.

Es wird häufig behauptet, diese Form der Urteile seien keine Urteile sondern Vorurteile. Es wäre eine bloße Meinung, die nicht fundiert ist. Im Sinne des reflektierenden und denkenden Menschen mag das auf der einen Seite schon stimmen, aber auf der anderen Seite wäre der Mensch schon im Affenzeitalter ausgestorben, wenn die Evolution nicht für fundierte Urteile gesorgt hätte. Da mag der Riss im Ast bewusst gar nicht wahrgenommen worden sein und die Hand des Affen nur aus Gefühl zu dem benachbarten Ast gegriffen haben, weil das Unterbewußtsein eben schneller im Urteil war. Es wäre für mich überaus mühsam für jeden Buchstaben, den ich hier tippe mir vorher ein konkretes bewusstes Urteil mit allen Vor- und Nachteilen zu bilden und jeden Buchstaben bewusst zu drücken. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass dieser Text willkürlich entsteht und nur die zufällige Anordnung von einem vor der Schreibmaschine sitzenden Affen ist, die rein zufällig Sinn ergeben. Wobei ja mal so ein Schimpanse mit Dartpfeilen auf Börsenpapiere werfend gegen einen Börsenmakler mit hochkomplexen mathematischen Modellen im Wertdepotgewinn gewonnen haben soll, sprich nicht auszuschließen ist, dass ein Schimpanse per Zufall etwas sinnvolleres schreibt als ich.

Wenn das Urteil als Entscheidung nun so situationsabhängig und scheinbar fast willkürlich ist, dann scheint es fast unmöglich einen objektiven Wert zu haben. Denn das Urteil entsteht ja bereits durch das Bewerten. Vielleicht ist es ja eine Willkür, dass es uns gibt. Sozusagen ein Scherz der Evolution den Affen mit mehr Hirn als er benötigt auszustatten. Dieser Scherz könnte sich allerdings auch bald erledigt haben, wenn wir nicht fähig sind uns selbst als etwas Erhaltenswertes zu betrachten. Dieses Urteil ist aus rein artspezifischer Sicht für uns objektiv. Den Begriff Objektivität gibt es außerhalb unserer Art gar nicht. Jede Argumentation, die anführt, dass der Mensch objektiv nicht die Krone der Schöpfung ist, vergisst, dass nur der Mensch das behaupten kann. Eine Kommunikation über die Artengrenze hinaus mit Delphinen über so abstrakte Begriffe ist uns nicht gelungen und wird wohl auch in absehbarer Zeit nicht gelingen. Sollte es uns gelingen, können wir gerne nochmal darüber mit den Delphinen philosophieren. Bis dahin ist es unser Wert und es sind unsere Werte. Wir sind auch dann der Mittelpunkt der Welt, wenn wir am Rande des Universums für nur eine Millisekunde existierten. Der Mensch als Einzelner als auch die gesamte Menschheit ist als Wert nicht verhandelbar. Selbstverständlich ist das ein willkürliches Urteil. Es ist aber das einzig vernünftige Urteil aus menschlicher Sicht und wir haben keine andere Sicht als die menschliche, wir können keine Fledermaus sein und auch kein Delphin. Wir sind das was wir sind. Und wir sind weder die Maschine des Rene Descartes noch sind wir die Biocomputer der Neuzeit, selbst wenn die Hirnforscher unser Gehirn entschlüsseln sollten und die physikalischen Prozesse dahinter vollständig verstanden hätten, könnten sie nicht erklären, warum das nicht schon Sokrates hätte tun sollen. Sie selbst müssten zugestehen, dass diese Erklärung nur erfolgen konnte, weil sie auf das Wissen längst verstorbener Menschen zurückgreifen konnten. Sprich die Biologie nur einen klitzekleinen Anteil unserer heutigen Existenz ausmacht. In den letzten vierhundert Jahren dürfte sich rein biologisch an uns nicht viel verändert haben.

Werte sind Entscheidungen.
Urteile sind Entscheidungen.

Ohne Entscheidung gibt es kein Urteil.
Ohne Urteil gibt es keinen Wert.